Lauftreff
Die Liebe Deines Lebens
Wie jede Liebesbeziehung wird auch Ihre Beziehung zum Laufen verschiedene Phasen mit allerlei Höhen und Tiefen durch machen. Hier erfahren Sie, wie Sie Ihre Laufleidenschaft langfristig am Leben erhalten. Text MARC PARENT • Illustrationen ROSS McDONALD
Wenn Nichtläufer mich fragen, wie lange ich schon laufe, und ich antworte: „Ewig!“, ist die Reaktion oft ein erstaunter Gesichtsausdruck, gefolgt von dem Satz: „Du musst das wirklich lieben.“ Darauf lächele ich und nicke, weil es stimmt – außer an den Tagen, an denen es nicht stimmt. „Es ist kompliziert“, sage ich. Denn wie jede Beziehung macht auch die zum Laufen mehrere Phasen durch. Als ich anfing, ging ich eine Zeit lang total darin auf. Ein Jahr später liebte ich das Laufen in etwa so wie meinen rechten Arm: Es war schlicht ein Teil von mir. Im fünften Jahr betrachtete ich es als etwas Selbstverständliches. Ich steigerte in leichtfertiger Weise mein Pensum, zog mir eine Verletzung zu und hasste es dafür. Ich überlegte aufzuhören und sah mich nach anderen Sportarten um. Ich fand keine, die mir gefiel, und malte mir aus, dass ich mich zu einem Couch-Potato zurück entwickeln, fett und depressiv werden würde. Als mir die Trostlosigkeit dieser Vorstellung bewusst wurde, war mir klar, dass das Laufen die Mühe wert war. Ich zog meine Laufschuhe wieder an und kämpfte mich zurück – einen beschwerlichen Kilometer nach dem anderen. Wer beim Laufen bleibt, erlebt langfristig seine eigene Version dieser Geschichte. Man nimmt ab, wieder zu, dann wieder ab. Man findet neue Freunde und verliert alte aus dem Blick. Man wird leistungsfähiger, verletzt sich, verliert massiv an Form und holt sich diese wieder zurück. Man läuft mal allein, mal in der Gruppe, mal mit, mal ohne Musik, so wie es einem gerade gefällt. Man versagt auf kurzen Distanzen, brilliert auf langen, fühlt sich manchmal blutjung, manchmal steinalt. Wenn man lange genug läuft, fängt man an, es zu lieben, aber es bleibt kompliziert. Und genau wie bei echten Beziehungsgeschichten gibt es auch beim Laufen typische Phasen, und je länger man dabei ist, desto wahrscheinlicher ist, dass man sie alle durchlebt (und heil übersteht).
KAPITEL 1 FRISCH VERLIEBT
Sie schaffen die ersten zwei Kilometer, ohne sich zu verletzen oder ohnmächtig zu werden, und beschließen in glühender Ignoranz, von nun an jeden Tag zu laufen, weil es einfach so fantastisch ist. Sie rufen Ihre Freunde an und fragen sie, warum sie verdammt noch mal nicht auch laufen. „Es ist fantastisch“, sagen Sie. Und natürlich freuen sich alle für Sie, aber Sie sind schwer auszuhalten. Sie reden über den Marathon, den Sie eines Tages laufen werden – wahrscheinlich den in New York, weil es der berühmteste ist. Sie schweben die ganze Zeit auf Wolke sieben. Sie klatschen Ihre Kollegen auf der Weihnachtsfeier ab und schlagen sich den Bauch mit Desserts voll, weil Sie ja jetzt laufen und darum essen können, was immer Sie mögen. Sie tragen auf solchen Partys knallbunte Metallic-Laufschuhe, die geradezu danach schreien, dass man Sie nach Ihrem wöchentlichen Kilometerumfang fragt. Laut der Anthropologin Helen Fisher ist die Verliebtheitsphase einer Liebesbeziehung nicht nur eine rauschhafte Schwärmerei, sie hat auch konkrete biochemische Ursachen. In dieser Phase laufen im Gehirn reale chemische Veränderungen ab, und zwar in den dopaminreichen Regionen, die mit Belohnung, Motivation und Sehnsüchten verknüpft sind. Daher der strahlende, leicht kuhäugige Blick jener, die diese Phase gerade durchleben. Laufeinsteiger surfen auf der gleichen Dopaminwelle, doch sorgt ihre Begeisterung im Verbund mit der neuen, körperlich anstrengenden Aktivität dafür, dass die Verliebtheitsphase leicht zu Problemen führt. Laut einer dänischen Studie mit 933 Läufern verletzten sich rund 25 Prozent der Neulinge auf den ersten 37 Kilometern, und mit wachsendem Laufpensum kamen weitere Verletzungen hinzu. Die häufigsten: Scheinbeinkantensyndrom (15 %), Läuferknie (10 %) und Verletzungen des Meniskus (9 %). Fast 5 Prozent landeten unterm Messer. Die mittlere Genesungsdauer aller Verletzungen betrug 71 Tage – für viele lange genug, um die Lust zu verlieren. Fazit: In der Verliebtheitsphase ist man Feuer und Flamme, aber wenn man nicht aufpasst, erlischt die Flamme schnell. Steigern Sie Geschwindigkeit und Distanz langsam, dann schaffen Sie die ersten 37 Kilometer problemlos und können voller Begeisterung in Phase zwei Ihrer Beziehung zum Laufen eintreten.
KAPITEL 2 ERSTE ERNÜCHTERUNG
Diese Phase im Leben eines Läufers ist durch die Erkenntnis geprägt, dass Sie auf der Bahn nicht eine einzige Runde zum Beispiel mit der viermaligen Olympia-Teilnehmerin Shalane Flanagan Schritt halten könnten – egal wie viele Kumpels Sie jeden Donnerstagabend beim Intervalltraining nassmachen. Der US-Fernsehjournalist Anderson Cooper durchlebte diesen Moment der Ernüchterung in aller Öffentlichkeit, als er Flanagan zu einem Wettlauf über 400 Meter auf der Bahn der Firmenzentrale von Nike in Oregon (USA) herausforderte. Vor diesem „Wettlauf“ muss er gedacht haben, seine Chance, mit ihr mitzuhalten oder zumindest nicht völlig unterzugehen, sei größer als null. Doch da irrte er sich gewaltig. Was hatte Cooper sich bloß dabei gedacht? Vielleicht war es schlicht männliche Überheblichkeit. (Als Flanagan ihn vor dem Start fragte, ob sie ernst machen solle, sagte er: „Auf jeden Fall!“) Aber ich glaube, es war wohl eher ein letztes Aufflackern seiner Verliebtheitsphase. Der Lauf war weniger ein Wettkampf auf einer Tartanbahn als ein 400 Meter langer Pfad der Erleuchtung. Am Ende des „Rennens“ lachte Flanagan, während Cooper vornübergebeugt dastand, die Hände auf die Knie gestützt, erschöpft, aber auch ein klügerer und besserer Läufer als zuvor. In vieler Hinsicht ist die Phase der Ernüchterung die schönste Phase der Liebe zum Laufen. Das Laufen ist nach wie vor neu und aufregend, aber Sie haben Ihre Freunde und Ihre Familie wieder. Vielleicht fragt man Sie sogar, wie es läuft, und Sie sind inzwischen schlau genug, die Antwort in unter 30 Sekunden zu geben, ohne dabei Ihren VO2max-Wert, Ihre Mittelfußknochen oder Ihre Laktatschwelle zu erwähnen. Sie werden schneller und laufen längere Strecken, aber Sie behalten Ihre (inzwischen auf ein realistisches Maß geschrumpften) Träume jetzt für sich. Vielleicht werden Sie tatsächlich irgendwann einen Marathon laufen, aber Sie wissen nun, was das bedeutet, und erzählen keiner Menschenseele davon.
KAPITEL 3 HERBE RÜCKSCHLÄGE
Mein Vater hat mir einmal erzählt, die gefährlichsten Phasen beim Motorradfahren wären ganz am Anfang und nach etwa fünf Jahren. „Ich fahre kein Motorrad, Paps“, war meine Antwort. Er nickte. Aber ich erkannte schon damals, dass dies ein wichtiger Aspekt ist, und zwar bei jeder Aktivität, die mit Risiken verbunden ist: Zu Beginn ist man nicht gut genug, und nach fünf Jahren wird man unvorsichtig. Es dauerte etwa fünf Jahre, bis die 10 Meilen für mich keine große Hürde mehr waren. Und dann – bevor ich wusste, wie mir geschah – war die Distanz für mich nicht bloß machbar, sondern kinderleicht. Ich forcierte das Tempo und hatte Spaß dabei. Ich verlängerte die Strecke. Ich fühlte mich unbesiegbar und lief unangestrengt durch Stadt und Land. Ein Olympia-Trainer analysierte meinen Laufstil und mein Training und erklärte, ich sei bereit für einen Marathon. Ich wählte New York, weil das der berühmteste ist. Dann verletzte ich mich, ignorierte den Schmerz, weil man das als Läufer eben manchmal so macht, und humpelte mit wehem Knie dahin wie ein Idiot – bis es nicht mehr ging. So lange, bis selbst ein einziger Kilometer ein Ding der Unmöglichkeit war, von einem Marathon ganz zu schweigen. Diese Phase durchlebt beinahe jeder Läufer irgendwann. Eine Studie des Sports Medicine Center der University of British Columbia in Vancouver, die mehr als 2000 Läufern zwei Jahre lang folgte, kam zu dem Ergebnis, dass die zehn häufigsten Laufverletzungen, darunter Plantarfasziitis, Schienbeinkantensyndrom, Gesäßmuskelverletzungen und Knieprobleme wie Reizungen der Patellasehne, auftraten, nachdem die Läufer mindestens fünf Jahre dabei waren. Obwohl die Studie keine Aussagen dazu enthält, ob die Verletzungen dieser Läufer durch Unvorsichtigkeit begünstigt wurden, verweist sie (neben vielem anderen) auf „äußere Einflüsse“ wie falsches Training, alte Schuhe oder Laufen auf nicht idealem Untergrund – alles Anzeichen einer zunehmenden Nachlässigkeit.
KAPITEL 4 AM SCHEIDEWEG
Dies ist die kürzeste und entscheidendste aller Phasen. Yogi Berra hat einmal gesagt: „Wenn du an eine Weggabelung kommst, nimm sie.“ Gemeint hat er damit vermutlich, dass man sich nicht vor Entscheidungen drücken soll. Auch beim Laufen kommt man unweigerlich irgendwann an so einen Punkt. Das kann nach einer ernsten Laufverletzung sein oder durch irgendetwas anderes bedingt sein. Möglicherweise ist es einfach nur eine Veränderung der Lebensumstände, die sich nicht unmittelbar mit dem Laufen verträgt: ein neuer Job, ein Umzug, eine Erkrankung, die Geburt eines Kindes oder eine längere Auszeit vom Laufen in der hektischen Weihnachtszeit, die sich immer weiter hinzieht. Ganz gleich, was dazu führt: An diesem Punkt entscheidet sich, ob das Laufen für Sie nur ein Lebensabschnitt ist nach dem Motto „Zwischen 20 und 30 bin ich viel gelaufen“ oder etwas Bleibendes, wovon Sie sagen würden: „Eines Tages breche ich auf der Straße zusammen, und dann wissen alle, dass ich bei etwas gestorben bin, das ich geliebt habe.“ Wenn die Entscheidung eine gesundheitliche ist, kann Ihnen nur ein Arzt den richtigen Schritt empfehlen. Ansonsten wird es für die große Mehrheit von uns unter praktisch jedem Gesichtspunkt am vernünftigsten sein, weiterzulaufen. Natürlich ist auch das Laufen mit gewissen Risiken verbunden. Aber das gilt auch, wenn man untätig auf der Couch sitzt und jedes Jahr ein halbes Kilo zunimmt. Nach Erhebungen des Centers for Disease Control and Prevention in den USA wiegt die US-amerikanische Durchschnittsfrau im Alter zwischen 20 und 30 Jahren 73,5 Kilogramm und nimmt in den folgenden zehn Jahren auf knapp 77 Kilogramm zu. Der amerikanische Durchschnittsmann nimmt im selben Zeitraum von 83,5 auf knapp 91 Kilo zu. Bei Beibehaltung eines sitzenden Lebensstils kommt Jahr für Jahr mehr Gewicht hinzu. Und mit dem steigenden Gewicht erhöht sich sowohl für Männer als auch für Frauen das Risiko für alle möglichen gesundheitlichen Probleme im Alter. Als ich selbst damals vor der Entscheidung stand, ob ich weiterlaufe oder nicht, habe ich mir die Männer angesehen, die älter waren als ich und mit dem Laufen aufgehört hatten, und sie mit denen verglichen, die weitergemacht haben. Damit war die Sache im Grunde auch schon klar. Es liegt nicht bei uns, ob wir älter werden wollen oder nicht, aber wir haben Einfluss darauf, wie wir altern. Als mein Knie endlich verheilt war, war ich völlig außer Form. Ich begann wieder bei Null, aber ich beschloss, dass es für immer sein würde.
KAPITEL 5 REIFE LIEBE
Der kanadische Beziehungstherapeut Darren Wilk hat einmal eine drastische Erkenntnis über das Geheimnis langjähriger Beziehungen formuliert: „Man findet immer das, wonach man sucht. Wenn Sie danach suchen, was Ihr Partner oder Ihre Partnerin falsch macht, werden Sie es finden, und zwar tagtäglich. Und wenn Sie danach suchen, was er oder sie richtig macht, dann finden Sie auch das jeden Tag.“ Wenn Sie diese Aussage erneut lesen und dabei das Wort „Partner“ durch „Laufen“ ersetzen, bekommen Sie eine Idee davon, wie man eine Beziehung zum Laufen lebendig hält. Anstatt sich auf das zu konzentrieren, was schwer fällt oder schmerzt, oder darauf, dass es immer schwieriger wird, sich weiter zu steigern, konzentrieren sich Läufer in der Phase der „reifen Liebe“ auf die schlichte Tatsache, dass sie es geschafft haben, dabei zubleiben. Nach allem Auf und Ab schnüren sie immer noch die Laufschuhe und laufen los, um nicht nur sich selbst fit zu halten und zu inspirieren, sondern auch alle in ihrem Umfeld. Und diese bewundern Sie für die Beharrlichkeit, mit der Sie über all die Jahre an einer guten Gewohnheit festgehalten haben, auch wenn das beileibe nicht immer einfach war. Wer die Phase der reifen Liebe erreicht hat, weiß, wie, wann und mit wem oder ohne wen er am liebsten und besten läuft. Er weiß, wann er eine Schippe drauflegen, wann er sich bremsen und was er dabei jeweils essen muss. Diese Läufer zweifeln nicht mehr an dem, was sie tun, und lassen sich durch Verletzungspausen nicht aus der Bahn werfen. Sie wissen, dass ihr Körper Ruhe braucht, um zu regenerieren, und solange ihr Herz schlägt, kehren sie auf die Straße zurück, komme, was da wolle. Ob Sie auch schon so weit sind, wissen Sie, wenn jemand Sie fragt, warum Sie laufen, und Ihnen keine bessere Antwort einfällt als zu lächeln und mit den Schultern zu zucken. Die Antwort ist kompliziert, und es liegen noch viele Kilometer vor Ihnen. Also, schnüren Sie einfach die Schuhe und laufen Sie los. Sie sind zu lange dabei, um noch darüber nachzudenken. Sie stecken viel zu tief drin, um aufzuhören, und Ihre Liebe ist zu stark, als dass Sie sich je davon trennen könnten.